Oder: Seit wann schrammeln die Schrammeln?
Im nunmehr zweihundertachten Jahr der Romantik,
unberührt von narzisstischem Personenkult oder mönchischer Moderne, ist dieses Paar siamesisch wie A und O, wie U- und E-, H&M oder Bonnie & Clyde. Die gesamte Wienermusik, gesungen, gepfiffen, gedudelt oder gegeigt, bewegt sich nach wie vor im Spannungsfeld dieser beiden Begriffe. Einem uralten Kunstbegriff entsprechend - was eine Funktion hat, kann kein Kunstwerk sein - bildete die Wiener Instrumentalmusik schon vor den Brüdern Schrammel traditionelle Musikkultur um ihre gesellschaftlichen Anlässe reduziert nach:
So ist der Wiener Tanz ein Panoptikum, die Miniatur einer verliebt durchtanzten Nacht, die der Zuhörer im Sitzen vollständig nachempfinden kann; Polkas werden in Wien so schnell gespielt, dass einem vom Zuhören allein schon schwindlig wird; die beliebten Märsche, wegen schwankender Tempi zum Marschieren gänzlich ungeeignet, simulieren zunächst ironisch die Selbstdarstellung pompös - patriotischer Patriarchen und werden später gänzlich zweckfrei zu Kammer- und Programmmusik; und der Wiener Walzer versetzt ganz Europa in selige Rotation und verdrängt schließlich die ganze komplizierte Palette der aristokratischen und großbürgerlichen Tanzformen. Der Kunstanspruch wurde nie wörtlich postuliert (Manifeste liegen dem Wiener nicht ...), aber durch Verwendung "klassischer" Harmonieverbindungen, akribische Arrangements, den Schritt auf die Bühne und mittels natürlicher Autorität durchaus umgesetzt. Ausserdem ist er erkennbar an der Bemühung, jedes Stück einem Komponisten zuzuordnen, was zuweilen auch humoristische Blüten treibt: So sollen, lang vor den Schrammeln, die Geiger Johann Schmutzer, Johann Mayer und Anton Debiasy Stücke komponiert haben, die nachweislich traditionelles, z. B. steirisches Liedgut sind oder von Alois Strohmayer stammen, während im 20. Jahrhundert diverse Kollegen sich selbst zu Komponisten mündlich überlieferter Melodien ernannten. Die Verwandtschaft zur Volksmusik (Natur?) zeigt sich, neben der tatsächlichen Herkunft vieler Melodien aus dem ländlichen Raum, andererseits an der weitgehenden Anonymität der Interpreten: Der Familienname Schrammel genügt seit über einem Jahrhundert zur Deklaration einer unüberschaubaren Menge von MusikerInnen und wurde endlich zur dauerhaften Stilbezeichnung für eine Musikgattung, die in erster Linie von der Interpretation durch Wissende lebt. Auch durch Unwissende ist sie nicht nachhaltig zu beschädigen, und über Sinn oder Unsinn einer Interpretation entscheidet letztlich ein musikalisch überaus gut informiertes Publikum: Die Wiener Bevölkerung. Seit 1870, der Donauwalzer war gerade drei Jahre alt, spielten die Geiger Johann und Josef Schrammel in Georg Dänzers Quartett (er war ein virtuoser G-Klarinettist) zusammen mit Anton Strohmayer an der Kontragitarre. Man spielte Ländler, Polkas, Walzer und die legendären alten Tanz, bekanntes Material, das teilweise durch Strohmayers Vater Alois erstmals aufgezeichnet worden war. Auch die Brüder Schrammel waren durch ihren Vater (Kaspar Schrammel, Klarinettist) über Volksmusik und Tanzpraxis informiert, Dänzer als Schüler von Georg Bertl ebenso.
Nach 1872, dem Jahr des großen Börsenkrachs und einer
darauf folgenden
weitreichenden "Zurück zur Natur"-Bewegung, (der Wiener resigniert gern ;-) hieß die exakt selbe Besetzung Die Schrammeln, nachdem die beiden Geiger ihre Studien beendet und den Wunsch nach Karriere in der Hochkultur aufgegeben hatten. Johann Strauss Sohn, Johannes Brahms, Arnold Schönberg und Kronprinz Rudolf waren bekennende Fans, wo sie spielten, war ausverkauft und sie erfanden den Musiktourismus in seiner heutigen Form: was heute der Buschauffeur für Grinzing, waren damals die Fiaker. Sie bereisten ganz Europa und näherten durch Virtuosität und strengen mehrstimmigen Satz die Volksmusik der "Klassik" an. 1890 starb Georg Dänzer, und aus Mangel an guten Klarinettisten ersetzte ihn Anton Ernst, ein Cousin von Johann Schrammels Frau und der erste bekannte Schrammelharmonikaspieler. Von ihm sind mehrere gute Arrangements und eine Harmonikaschule erhalten.
Nach dem frühen Tod der Brüder Schrammel 1891 und 1892 (zur Weltausstellung in Chicago fuhren Substituten) war der Bedarf an Schrammelmusik bereits enorm. Erst sie hatten etabliert, was sich zwar, einem Schmelztiegel entsprechend, aus volkstümlichen Stilen der gesamten Monarchie zusammensetzte, aber etwa ab der Jahrhundertwende in unzähligen Liedern und Publikationen stolz als "die Wienermusik" gepriesen wurde. Auf Schellacks ist die Zeit von 1895 bis zum 2. Weltkrieg dokumentiert. Es sind einige hundert Aufnahmen erhalten, die seit vielen Jahren von Ernst Weber auf Johnny Parths Label Document Records wiederveröffentlicht werden. Zusammen mit seinem Bruder, dem Geiger und Komponisten Karl Mikulas und dem virtuosen Kontragitarristen Franz Kriwanek hinterliess der Harmonikaspieler Josef Mikulas mit die besten Aufnahmen von authentischer Wiener Instrumentalmusik. Von ihm stammen, neben einer Schule für Schrammelharmonika, die einzigen relevanten Arrangements - beinahe alles andere ist als reine Dokumentation der Melodien zu verstehen.
Mikulas gibt genaue, oft bildliche Tempoanweisungen, er notiert die Interpretation und ohne Taktstriche, wenn nötig, er hat hunderte Stücke komponiert, die nach ihm niemand mehr spielen konnte (Vitamin Qu, Feuchtfröhliche Heimkehr, Die Katz' am Käfig, Zeigefinger-Polka, ...). Mikulas' erste Aufnahmen stammen aus den 1920er Jahren, bis in die späten 50er war er u. a. bei der Wien-Film aktiv und hat noch fast taub als über 70jähriger Aufzeichnungen gemacht, die heute als unschätzbare musikalische Dokumente unter uns "jungen" kursieren. Sein letztes Werk, "Am alten Katzensteig" beschäftigte ihn fast 20 Jahre. Ihm gelang, was ich laienhaft als polyphone Volksmusik bezeichnen würde, eine wirkliche Synthese aus "Kunst" und "Natur".
Diese Musik ist alles andere als einfach, muss aber unbedingt so klingen: "Der Mikulas kommt im Zirkus gleich nach den Messerwerfern", formulierte Edi Reiser, jahrelang als Kontragitarrist mit Prof. Karl Hodina im "Packl" zu hören. Hodina selbst erzählt gern die Anekdote vom ebenfalls virtuosen Harmonikaspieler Franz Kemmeter, der einmal gefragt wurde, was er denn an seinem freien Abend tue. Der sagte: "Dann pilger' ich nach Grinzing, wo der Herr Mikulas spielt." "Aha", sagte der Frager, "und da spielen sie dann mit ihm?" "Nein, nein! Mit dem HERRN Mikulas kann niemand mitspielen!". Im zweiten Weltkrieg hat sich die nunmehrige Wienermusik mit ihren Interpreten, angeekelt von Größenwahn und präziser Gründlichkeit, in die hintersten Hinterzimmer der verstecktesten Buschenschanken zurückgezogen, und erst seit einigen Jahren lässt man sich, widerwillig, in die Karten schauen. Damals wie heute ist jedenfalls undenkbar, die Wiener "Volks"musik für irgendwelche politischen Gruppierungen zu instrumentalisieren. Wer sich dafür hergibt, bringt die Wienermusik und damit auch die Wiener in Verruf. Wichtige Publikationen der letzten Jahre:
Karl Hodina, O du lieber Augustin
Christina Zurbrügg, Orvuse on Oanwe
Roland Neuwirth, Das Wienerlied
Ernst Weber, 1500 Gstanzln aus Wien und Umgebung
Hojsa/Emersberger, Wienerlied 2003
Yvonne Rutka, Das Wienerlied lebt - und wie!
Hg. Schedtler/Zotti, wiener lied und weana tanz
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